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WISSENSWERTES
➔ PROMINENTE PROPHETEN
Ein Blick aus der Vergangenheit in die Gegenwart
1964–2000–2020 wird die Stadt mit einem riesigen Atemzug Einzugsgebiet, keine Stadt mehr, wie wir
morgens gegen 9 Uhr weit über eine Million sie heute kennen, eine weit ausgebreitete
Der deutsche Schriftsteller Friedrich Schil- Beschäftigte an ihre Arbeitsplätze ziehen, Metropole um den Schnittpunkt der alten
ler (1759–1805, Schillerstraße von 1860) um sie am Nachmittag gegen 4 Uhr zum Salzstraße und der Handelsstraße Nord-Süd
erkannte: „Nichts Wahres lässt sich von der Feierabend wieder auszuatmen.“ Und wie (= Marienplatz).
Zukunft wissen.“ Außerdem gelangte er zu sollte der ungeheure Verkehr, der durch
der Erkenntnis: „Vermauert ist dem Sterbli- diese Art von 28-Stunden-Woche entstand,
chen die Zukunft.“ Der US-Schriftsteller bewältigt werden? „U-Bahn, Hochbahn und Alfred Angerer (1925–2010)
John Steinbeck (1902–1968) wiederum zweigeschossige Stadtautobahnen werden
stellte fest: „Das Merkwürdigste an der die Verkehrsprobleme wieder befriedigend Angerer arbeitete als Architekt und Stadt-
Zukunft ist wohl die Vorstellung, dass bewältigen: elektrische Automobile, ge- planer und als Professor an der Techni-
man unsere Zeit später die gute alte Zeit räuscharm und ohne Auspuffgase, senk- schen Universität München. Zu seinen Bau-
nennen wird.“ Und der deutsche Wissen- recht startende Großraumflugzeuge und ten in München zählen das DEBA-Haus von
schaftsjournalist Robert Jungk (1913– kleinere Privatmaschinen, Taxis zu Straßen- 1966 an der Drygalski-Allee 118, die Pres-
1994) veröffentlichte 1952 ein Buch mit bahnpreisen.“ Genauso dynamisch sollte es sestadt für die Olympischen Sommerspiele
dem Titel „Die Zukunft hat schon begon- dann im Jahr 2000 in der reichlich bemes- 1972 an der Riesstraße 82 oder die Erwei-
nen“, ein weltweiter Erfolg. In diesem Sin- senen Freizeit zugehen: „Mit einem Porte- terung des Karstadt (damals Hertie) von
ne wollte auch die Süddeutsche Zeitung monnaie, etwa dreimal so dick wie das ih- 1971 entlang der Schützenstraße. Angerer
nicht hintanstehen, als sie in ihrer Ausga- rer Großeltern, werden unsere Enkel an den zeigte sich 1964 zuversichtlich, dass die
be vom 31. Dezember 1964 einige Promi- langen Wochenenden und Feierabenden auf 2000er einen vernünftigen Umgang mit
nente einen Blick in die Zukunft werfen sechsbahnigen Straßen ins Grüne fahren.“ dem Auto gelernt haben würden. Die Künf-
ließ: „Wie sieht München im Jahr 2000 Und wie könnte dieses Grün im Jahr 2000 tigen würden sich in ihrer Stadt wieder
aus?“ Diese Persönlichkeiten erschienen als aussehen? „Unwirtschaftlich gewordene menschenwürdig bewegen und sich mit
Fachleute geeignet, 36 Jahre in die damali- Acker- und Weideflächen sind nun kostbare Schaudern an die Zeiten der lärmenden und
ge Zukunft zu blicken, und begaben sich Erholungsgebiete.“ Die größten Probleme stinkenden Automobile erinnern, an die
auf das rutschige Parkett der Zukunfts- der Stadt im Jahr 2000 seien nicht mehr U-Bahn-Baustellen und das Verkehrschaos.
schau. die Verkehrs- und Versorgungsprobleme, Die U-Bahnen würden lautlos unter der
sondern politische: Kann diese Stadt ihr Stadt hindurch gleiten und die vernünftig
einzigartiges Profil bewahren, wenn die konstruierten Autos am Rand des Zentrums
Klaus von Dohnanyi (geboren 1928) Hälfte aller Einwohner des Großraumes in Parkgaragen verschwinden. Ungestört
nicht mehr unmittelbare Bürger der Stadt könne man dann zu Fuß durch die Innen-
Nach verschiedenen öffentlichen Ämtern sind, und sich hier eine weit ausgebreitete stadt bummeln und nach Lust und Laune
arbeitete Dohnanyi später – von 1964 aus Metropole über das Land zieht? Der öffent- verweilen. Um das Umland vor der Zersied-
gesehen später – von 1981 bis 1988 als liche Haushalt des Wirtschaftsraumes Mün- lung zu bewahren, stünden heute – also
Erster Bürgermeister der Freien und Hanse- chen werde etwa vier Milliarden betragen; 2000 – in der Stadt Hochhäuser, die alle
stadt Hamburg. Er meinte, dass im Jahr tatsächlich betrug der Haushalt allein der Vorteile eines Einfamilienhauses böten.
2000 rund drei Millionen Menschen im Stadt München 2000 rund neun Milliarden „Sicher ist München schöner als jetzt, denn
Großraum München leben und dass bis da- DM. Also die bange Frage: „Das ist eine viele der uns heute bedrängenden Probleme
hin die Vorortssiedlungen städtischen Cha- Größenordnung, die heute nur von Mam- sind bewältigt“, glaubte Angerer optimis-
rakter angenommen haben würden. Dieser mutbetrieben der Wirtschaft erreicht wird. tisch.
Großraum München definierte sich aus der Wird man die Stadtverwaltung auch handha-
Landeshauptstadt München selbst sowie ben können wie einen rationellen Großbe-
aus den damaligen Landkreisen Wolfrats- trieb?“ Ganz allgemein schätzte Dohnanyi Edgar Luther (1908–1972)
hausen, Dachau, Ebersberg, Erding, Frei- die Situation unserer Stadt wie folgt ein:
sing, Fürstenfeldbruck, München und „München, im Schnittpunkt des Handels Der damals amtierende Stadtbaurat Edgar
Starnberg. Tatsächlich lebten im Jahr 2000 zwischen einem hoch industrialisierten Luther äußerte sich – aus unserer heutigen
im Großraum insgesamt 2.400.000 Men- Nordeuropa und einem schnell reich gewor- Sicht – zögerlich, was den öffentlichen
schen, Dohnanyi behielt also über den denen Italien, zwischen dem Wirtschafts- Nahverkehr anging: Für das Jahr 2000 sah
Daumen gepeilt einigermaßen Recht. Weni- gebiet Westeuropas und einem aufblühen- er voraus, dass es dann eine S-Bahn-Ver-
ger Recht behielt er mit folgender Vorher- den Balkan, wird nicht mehr dieselbe Stadt bindung zwischen Hauptbahnhof und Ost-
sage: „An den vier Arbeitstagen der Woche sein. Drei Millionen Bewohner im engeren bahnhof sowie eine einzige U-Bahn-Linie
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