Page 32 - Taxikurier Januar 2023
P. 32

drei Amateurmusiker auf ihren Gitarren die-
           se Beatmusik und die Zuhörer und Zuhöre-
           rinnen tanzten dazu. Auf Beschwerden von
           Anwohnern hin beendete die Polizei die
           Vorführung und bekam ein ohrenbetäuben-
           des Pfeifkonzert zu hören, nahm aber nie-
           manden fest. Der damalige Oberbürger-
           meister Hans-Jochen Vogel (1926–2020,
           Hans-Jochen-Vogel-Platz von 2021) schrieb
           später über diesen Abend: „Gerüchte laufen
           um, das Überfallkommando habe in der
           Nacht zuvor am Wedekindplatz eine große
           Gruppe von Studenten und Jugendlichen
           zerstreut und eine Anzahl von ihnen ver-
           haftet. Manche behaupten, die Polizei    Straße ohne Rücksicht auf Unbeteiligte.   (1905–1984), erklärte: „Die Übergriffe
           sei mit brutaler Härte vorgegangen und   Seit jenem 21. Juni 1962 kam Schwabing   entspringen einer geradezu unwahrschein-
           habe auch vom Gummiknüppel Gebrauch   nicht mehr zur Ruhe.          lichen Langeweile. Die Leute haben zu viel
           gemacht. Die Stimmung ist nervös, man                               Geld und zu wenig Arbeit. Infolge fehlen-
             erwartet weitere Zwischenfälle. Einige                            der Ideale treiben sie sich nachts in den
             erhoffen sie sogar.“ Am nächsten Abend   Nacht für Nacht          stumpfsinnigen Lokalen herum.“ Eine
           war es dann soweit.                                                 Dame schrieb in einem Leserbrief: „Keiner
                                             Die „Süddeutsche Zeitung“ meldete: „Nacht   von diesen Schwabinger Wirtschaftswun-
                                             für Nacht: Tumulte in Schwabing. Straßen-  der-Verwahrlosten wäre in der Lage, im
           Aufstand der Massen               schlachten zwischen Polizei und jungen   ganzen Jahr auch nur annähernd das zu
                                             Leuten. Im nächtlichen Schwabing herrscht   leisten, was ein Polizist in allein zwei
           Der „Münchner Merkur“ schrieb über den   Ausnahmezustand. Abend für Abend rotten   Stunden am Stachus z. B. zu leisten hat!
           Abend dieses 21. Juni: „Barfüßige Twens in   sich Tausende von jungen Leuten zusam-  Sogenannte Unschuldige, die dabei nieder-
           Bluejeans mit Bierflaschen in der Hand   men.“ Die brodelnde Menge beschädigte in   geschlagen worden sein sollen, sind keine
           heizten die ohnehin heiße Atmosphäre   blinder Wut mit Fußtritten, Bierflaschen   Unschuldigen. Keiner hatte dort etwas zu
           etwa ab 21 Uhr so an, dass es langsam in   und Steinen Autos und Straßenbahnen,   suchen, erst recht nicht Frauen, denen die
           der Leopoldstraße zwischen Martius- und   verletzte aber auch Polizisten. Feuerwerks-  doppelte Tracht Prügel gehört hätte!“ Ein
           Trautenwolfstraße immer mulmiger wurde.“   körper wurden gezündet und Kanonenschlä-  Leser klagte: „Auf meinem  gepflegten Opel
           Abends gaben die besagten drei Gitarristen   ge explodierten, der einzige damals in   Rekord tanzte eine Aus länderschickse mit
           wieder ihr Können zum Besten, jetzt pub-  München vorhandene Wasserwerfer konnte   ihrem Stingl, 17 bis 19 Jahre alt, mit ihren
           likumswirksamer an der Leopold-/Ecke   nicht eingesetzt werden, weil die Oberlei-  Pfennigabsätzen auf Kofferraum und Dach
             Martiusstraße. Einige Anwohner fühlten   tungen der Trambahnlinien 3 und 6 unter   herum. Ein Kerl hupte andauernd in mei-
           sich zwar nicht vom Verkehrslärm, sehr   Strom standen. Sehr viele Schaulustige   nem Wagen. Mir hat das Eingreifen der
           wohl aber von der ihnen unangenehmen   strömten allabendlich in der Hoffnung nach   Polizei viel zu lange gedauert. Ich bin An-
           Musik und ihrer Zuhörerschaft belästigt und  Schwabing, die sensationellen Krawalle   timilitarist, aber wenn ich da eine Maschi-
             riefen gegen 23.00 Uhr die Polizei. Die     besichtigen zu können. Die Polizei machte   nenpistole mit tausend Schuss Munition
             Beamten nahmen die bereits bekannten   ihrerseits rücksichtslos vom Gummiknüppel   gehabt hätte wie im Krieg, ich hätte rund-
           Musikanten fest, sahen sich aber von einer   Gebrauch. Cafés und Eisdielen wurden von   um in die Bande geschossen. Wenn sie
           wütenden Menschenmenge umringt, aus   den Beamten als vermeintliche oder tat-  mich auch totgeschossen hätten, oder ich
           der heraus wiederum die Reifen ihres Wa-  sächliche Schlupflöcher der Randalierer   wäre zu lebenslänglichem Zuchthaus verur-
           gens zerstochen wurden. Weitere Polizei-  kurz und klein geschlagen. In der Nacht   teilt worden, würde es mich nicht reuen.“
           fahrzeuge trafen ein und Schaulustige   zum 26. Juni flammten die Unruhen noch   Wieder ein anderer sah das Abendland
             sammelten sich, so dass sich bald rund   einmal auf, die Polizei griff in gewohnter     gefährdet und bedauerte „den Ausverkauf
           800 Menschen drängten, oft ohne zu wis-  Weise ein. Um 2.00 Uhr nachts kehrte   unserer sittlichen und kulturellen Werte
           sen, worum es ging. Erst als Mannschafts-  schließlich Ruhe im Viertel ein. Die unge-  in dem einstmals sogenannten christlichen
           wagen der Polizei vorfuhren, von denen   lenkte und auf den ersten Blick ziellose   Abendland.“ Nichts Neues unter der Sonne
           Beamte herabsprangen, um die Menge von   Aggression hatte sich erschöpft. Insgesamt   also, man kennt das auch von heute.
           der Fahrbahn weg an die Hauswände zu   198 Menschen waren vorübergehend fest-  Im Polizeipräsidium erkannte man die
           drängen, schlug die Stimmung um. Fest-  genommen worden, es konnten aber ledig-    gravierende Unfähigkeit der Polizei, mit
           nahmen folgten, oft beschleunigt durch   lich zwei Rädelsführer daraus ermittelt   kritischen Situationen und als bedrohlich
           Knüppelhiebe. Dieses ungeschickte und     werden.                     empfundenen Menschenmengen konflikt-
           überharte Vorgehen der Polizei verwandelte                          begrenzend umzugehen. Anstatt auf
           den  anfänglich harmlosen Auflauf in einen                            Gewalt begann man, verstärkt auf krisen-
           massenhaften Krawall. Die Leopoldstraße   Reaktionen                entschärfende psychologische Taktik zu
           wurde von Tausenden von Jugendlichen                                vertrauen. In Reaktion auf die Schwabin-
           blockiert, die Privatwagen umzuwerfen ver-  Die Reaktionen auf die Schwabinger   ger Krawalle entstand in München der
           suchten und johlend und schreiend Tram-    Krawalle fielen sehr kontrovers aus. Der     Posten des Polizeipsychologen, der erste
           bahnzüge enterten. Die Polizei räumte die   Rektor der Universität, Julius Speer   seiner Art in Westdeutschland.




           32 ⁄ TAXIKURIER ⁄ JANUAR 2023
   27   28   29   30   31   32   33   34   35   36   37