Page 30 - Taxikurier Juli 2024
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GESCHICHTE

            ➔ SCHWABING 1970





           Kommerz und Drogen, Glanz und Absturz – Von Benedikt Weyerer



           Es ist nun bereits mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, dass eine Erkenntnis des Politikers, Wissenschaftlers
           und insbesondere Dichters Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) wieder einmal aktuell wurde:


              „Was glänzt, ist für den Augenblick   nanzkunststücken zu beherrschen. Erschwe-  Stadt 20 Restaurants verschiedenen Stils
               geboren.“ Und dies galt nicht nur für   rend kam das bald nachlassende Interesse   und zur Abrundung ein Luxushotel eröff-
             des Meisters Wirkungskreis im Thüringen  des Publikums an den Pop-Palästen hinzu.   nen.“ Auf der Isar wollte er ein Restaurant-
             des 19. Jahrhunderts, sondern auch für   Anstatt eines Millionenvermögens hatten   Schiff verankern, das nur Meerestiere wie
             unser Schwabing des 20. Jahrhunderts.  Timur und Anuschs ahnungslose Witwe nur   Hummer und Austern servieren sollte, wozu
                                             Schulden geerbt. Diese hatten schon lange   er in Paris bereits einen abgewrackten
                                             nicht mehr zurückgezahlt werden können,   Kahn gekauft hatte, der allerdings die Ge-
           Die „Könige von Schwabing“        allzu viele Kreditgeber und Kleinanleger   wässer der dortigen Seine nie verlassen
                                             verlangten ihr Geld zurück und alle Vergnü-  sollte. Im Englischen Garten wollte er auf
           Die Brüder Anusch (1935–1970) und Timur   gungsstätten der Brüder gingen in andere   eigene Kosten den Chinesischen Turm ab-
           Samy (1940–2004) wurden im Iran einer   Hände über. Nicht mehr im Porsche, son-  reißen lassen, um ihn originalgetreu als
           deutschen Mutter und einem persischen   dern auf dem Fahrrad bewegte sich Timur   größtes China-Restaurant Europas wieder-
           Vater geboren, ähnlich der zweiten Frau   jetzt durch Schwabing. Er musste nun alles   aufzubauen. In einem Japanischen Bad
           des Schahs von Persien Reza Pahlevi   verkauften, was nicht niet- und nagelfest   sollten originale Geishas von den fernöstli-
           (1919–1980), Soraya Esfandiary-Bakhtiary   war. Ihm blieben nur der Offenbarungseid   chen Inseln Männer massieren und ihnen
           (1932–2001), deren Mutter Deutsche und   und der Rückzug in eine Kommune, wo er   danach Tee servieren. Hierbei verkannten
           deren Vater Perser war. Nebenbei bemerkt,   und seine letzten Anhänger sich in weiße   die Beiden allerdings offenbar, dass japani-
           liegt Soraya mit ihrer elterlichen Familie   Gewänder hüllten, den Weltfrieden predig-  sche Geishas keine Dienerinnen in Sachen
           auf dem Münchner Westfriedhof begraben   ten und selbst gebraute Getränke und   Sex, sondern kultivierte Unterhalterinnen
           (Gräberfeld 143-A-17). Doch zurück zu den     Drogen genossen. Die Mutter überwies    sind. Zwischen den Münchner Amüsierbe-
           Gebrüdern: In zwei Kulturen aufgewachsen,   300 Mark im Monat an den verlorenen   trieben sollten Busse pendeln. In acht wei-
           trieben sie als Geschäftsleute in West-  Sohn. Ein Reporter spürte ihn 1997 in Süd-  teren deutschen Städten sowie in Brüssel
           deutschland und hier insbesodere in Mün-  spanien auf, als Mensch vereinsamt, aber   und Amsterdam wollte Anusch nun „den
           chen ihr Wesen – anfangs als Teppichhänd-  in Gesellschaft von geschätzt 50 Katzen   Laden umkrempeln“. Eine Kette von „Ver-
           ler und dann als Erfinder der Minicars, eine   und einem ausgemergelten Pferd, gekleidet   gnügungsmärkten neuen Stils“ befände
           Firma, die wie die heutigen Uber & Co.   wie ein  alter Revoluzzer. Der finanziell ab-  sich bereits im Aufbau, alle sollten sie
           Fahrzeuge vermittelte, die mit Fahrer ge-  gestürzte Vizekönig von Schwabing hatte   „Città 2000" heißen. In jede Filiale wollte
           mietet werden konnten. Beispielsweise   alles verloren und verstarb schließlich im   er zwei Millionen Mark stecken. Sechs Milli-
           stellten sich deren Lenker während des Ok-  Jahr 2004 in trostloser Anonymität. Das   onen waren bereits investiert. Einen verita-
           toberfestes in der Nähe der Theresienwiese   sind die  Geschichten, wie sie manchmal   blen Großangriff auf das ganze System
           auf, um alkoholisiertes Publikum zu beför-  wohl nur das Leben schreiben kann, und   plante Anusch, während sich Temur im
           dern. Die bald als „Goldfinger“ und „Könige   man kennt sie auch aus heutigen Zeiten,   Schlepptau seines Bruders ziehen ließ. Vor
           von Schwabing“ bekannten Unternehmer   beispielsweise aus Österreich.   Journalisten kündigte Anusch drohend und
           überzogen ihr Revier mit etlichen Vergnü-                           großspurig an, dabei immer ans große Geld
           gungsstätten. Während der jüngere Temur                             denkend: „Wir brechen aus dem erstarrten
           als großer Träumer im Münchner Monopoly   Visionen                  System aus, wir mobilisieren die Jugend.“
           mitspielte, sorgte sein älterer Bruder
           Anusch, der sein Maschinenbaustudium an   Ende der 1960er-Jahre waren die Brüder zu   In München und Oberbayern setzten die
           der Technischen Hochschule, der heutigen   folgender, tief schürfenden und schließlich   Brüder auf bislang nicht gekannte Expan-
           Technischen Universität, abgebrochen hat-  kurzfristig erfolgreichen Erkenntnis ge-  sion. Nachdem sie mit ihrem siebten Lokal
           te, knallhart fürs Geschäft. Als aber Anusch   langt: „Schwabing ist wie eine Frau. Wenn   namens „Bouillabaisse“ in die Innenstadt
           Samy 1970 mit seinem Privatflugzeug auf   sie schön und attraktiv ist, kommen viele   vorgestoßen waren und in Bad Wiessee ei-
           dem Weg zum standesgemäßen Skiurlaub   Verehrer. Dieses ständige Rendezvous ist   nen ersten „VIP-Club“ eröffnet hatten, galt
           ins noble Sankt Moritz ums Leben kam,   unser Geschäft.“ Und diese Erkenntnis   es jetzt, „Schwabing zu sozialisieren“. Das
           zeigte sich sein Bruder Timur nicht in der   brach sich beim geschäftstüchtigen Anusch   begann auf dem „Boulevard Leopold“ mit
           Lage, das Party-Imperium mit seinem kom-  Samy im November 1967 Bahn in folgenden  der volkstümlichen, 400 Plätze großen
           plizierten Geflecht aus Krediten und Fi-  Visionen: „Ich werde zunächst in dieser   „Brez’n“ an der Leopoldstraße 72. Das




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