Page 27 - Taxikurier Juli 2023
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durch die Hinterausgänge der Kasernen das
           Weite suchten, um sich so rasch wie mög-
           lich in harmlose Zivilisten zu verwandeln.“


           Mitgliederkartei der NSDAP

           Nur einen Tag danach, am 1. Mai 1945,
             ereignete sich gleich nördlich der Militär-
           straße in der Siedlung Kleinlappen an der
           Wildshuter Straße 23 folgendes: Als gegen
           Ende April 1945 die US-Armee immer näher
           auf München vorrückte, beabsichtigte die
           NSDAP, ihre Mitgliederkartei zu vernichten.
           Diese lagerte im Gebäude Katharina-von-
           Bora-Straße 10 [damals Arcisstraße 10]
           und umfasste sämtliche Unterlagen über
           die rund 8.500.000 Mitglieder der Partei im
           deutschen Einflussbereich. Diese riesige
           Menge brisanten Materials sollte in der Pa-
           pierfabrik Freimann eingestampft werden.
           Unter Lebensgefahr täuschten die dort Ar-
           beitenden eine Vernichtung nur vor und   Die US-Armee               galt, den deutschen Militarismus auch geis-
           übergaben die inzwischen ungeordneten,                              tig zu überwinden. Und so kam es, dass der
           aber immer noch vollständigen Unterlagen   Im Mai 1945 wurde aus der SS-Kaserne die   Stadtrat am 14. Januar 1947 den neuen
           am 1. Mai 1945 den US-Amerikanern. Diese   Warner-Barracks, wo neben den US-Solda-  Namen vergab: Heidemannstraße mit der
           ließen die Papiermassen sortieren und teil-  ten zwischen 1948 und 1950 auch das „US   zivilen Erklärung nach einem Mann, der
           ten am 18. Oktober 1945 der Öffentlichkeit   Emigration Center“ Beherbergung und Ver-  sich wohltätig verdient gemacht hatte:
           mit, dass die Mitgliederkartei der NSDAP   sorgung für überlebende Juden sowie ande-  „Karl  Heidemann, stiftete 1913 letztwillig
           lückenlos vorliege. Diese für viele erschre-  rer Menschen, die infolge des Krieges ent-  RM 150.000 für wohltätige Zwecke.“ Sein
           ckende und beunruhigende Tatsache er-  wurzelt und heimatlos geworden waren,   Geburtsdatum ist leider unbekannt. Das
           möglichte am 5. März 1946 das Inkraft-  bot und ihre Ausreise aus Deutschland or-  Buch „Die Münchner Straßennamen“ von
           treten des „Gesetzes zur Befreiung von   ganisierte. Seit 1950 waren hier insgesamt   Hans Dollinger besitzt sicherlich seine Ver-
           Nationalsozialismus und Militarismus“. Be-  5.000 Soldaten untergebracht, das riesige   dienste, aber man kann sich nicht immer
           reits seit Montag, dem 15. Oktober 1945,   Gebäude war nach dem Pentagon in Was-  darauf verlassen, obwohl es sich als Stan-
           waren sechsseitige Fragebögen an alle   hington das zweitgrößte militärisch ge-  dardwerk versteht. Wie so oft auch bei
           männlichen und weiblichen Deutschen ab   nutzte Gebäude der US-Army. Bis Ende der     Benennungsdaten, erklärt Dollinger hier
           dem 19. Lebensjahr ausgeteilt worden, in   1960er Jahre befand sich auf der nördlich   fälschlich: „Johann Nepomuk Heidemann
           denen sie ihre eventuelle Mitgliedschaft in   angrenzenden Panzerwiese der zugehörige   (gestorben 1913) war geheimer Kommer-
           der NSDAP und ihren Unterorganisationen   Flugplatz namens Warner Strip. Aus der   zienrat und errichtete mit einem Kapital
           angeben mussten ebenso wie ihre Aktivitä-    General-Wever-Kaserne an der Heidemann-  von 150.000 Mark zum Gedenken an seinen
           ten während des Dritten Reiches in und   straße wurde die Henry-Barracks und die     Vater eine Carl-Heidemann-Stiftung für
             außerhalb Deutschlands. Mit Vollendung   Verdun-Kaserne hieß nun Will-Barracks mit     kinderreiche Familien.“ Eine ähnliche, be-
           des 18. Lebensjahres hatte man nämlich   einem neuen Haupteingang an der Ingol-  zeichnende Änderung hatte es bereits am
           der NSDAP beitreten können. Ohne ausge-  städter Straße 240.        3. Januar 1946 gegeben. Die mit Freimann
           füllten Fragebogen gab es keine Lebens-                             1931 eingemeindete Kruppstraße trug die
           mittel- und sonstigen Bezugsmarken und                              Erklärung: „Alfred Krupp, Industrieller, Be-
           die Inhalte der Antworten ließen sich nun   Von der Militär- zur Heidemannstraße  gründer der Gussstahl- und Geschützfabrik,
           mühelos überprüfen. Als Gerichte sollten                            geboren 26.4.1812, gestorben 14.7.1887
           die sogenannten Spruchkammern über die   An der militärischen Nutzung der Militär-  in Essen.“ Nunmehr erfuhr sie ihre Um-
           gerade eben verflossene politische Vergan-  straße änderte sich beim Übergang von der   benennung in Lincolnstraße: „Abraham
           genheit der Parteimitglieder urteilen und   deutschen Wehrmacht zur US-Armee im Mai   Lincoln, 16. Präsident der USA. Er ist nach
           entsprechende Strafen festlegen.   1945 nicht viel. Die Erklärung ihres Namens  Washington einer der beliebtesten Präsi-
                                             lautete: „Die Straße führt zu den Militär-  denten der USA. In seine Amtszeit fiel
           Heute steht diese Kartei der Öffentlichkeit   schießständen.“ Seit 1880 hatte sich im   die Abschaffung der Sklaverei. Geboren
           im Bundesarchiv in Berlin zur Verfügung.   Laufe der Zeiten allerhand geändert, näm-  12.2.1809, gestorben 15.4.1865.“ Der
           Im Jahr 1964 ehrte der Stadtrat den Grün-  lich das Entstehen eines militärischen   Name ist verschwunden, weil auf ihrer
           der der Fabrik mit der Umbenennung der   Schwerpunktes im Münchner Norden. Diese     Trasse Ende der 1950er Jahre die Autobahn
           Wildshuter Straße in Josef-Wirth-Weg:   Kasernen und Übungsgelände der Wehr-  nach Schwabing verlängert wurde. Bis 1960
             „Josef Wirth (1850–1913), Fabrikbesitzer;   macht übernahm die siegreiche US-Armee   wälzte sich der gesamte Fernverkehr auf
           er war ein Förderer von öffentlichen und   in gleicher Nutzung. Nun allerdings hatten   der Situlistraße durch den dörflichen Orts-
           kulturellen Einrichtungen in Freimann.“  sich die Zeiten nochmals geändert und es   kern von Freimann. ➔




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