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WISSENSWERTES

            ➔ GELÄCHTER AUS DEM DRAHTVERHAU





           Fasching 1916 im Ersten Weltkrieg – Von Benedikt Weyerer



           Der 11. November ist der offizielle Beginn der Faschingszeit, die am Faschingsdienstag, heuer dem 13. Februar 2024,
           um Mitternacht endet. Während der Faschingszeit sind verschiedene Verkleidungen und seltsame Verhaltensweisen möglich,
           die zu anderen  Jahreszeiten weniger akzeptiert werden. In München hingegen haben sich diese Erscheinungen mehr zur
           Wiesn-Zeit hin verschoben, während früher der Fasching noch ernster genommen wurde.



             Aus jener angeblich guten, alten Zeit soll hier berichtet wer-  und Vieh und es riecht oft entsetzlich nach Verwesung. Wir kom-
             den, und zwar aus dem Ersten Weltkrieg, der am 1. August   men in einen Hohlweg durch einen kleinen Wald, der nur mehr aus
             1914 begann und am 11. November 1918 endete, also dem   Telegraphenstangen besteht, so haben Kugeln und Granaten ihn
               kalendermäßigen Beginn der Faschingssaison, und internatio-  zugerichtet. Hunderte und Hunderte von Leichen liegen seit Mona-
             nal mehr als 17 Millionen Menschen das Leben kostete, darun-  ten in diesem Wald und viel Kriegsgerät. Wir kommen aus dem
             ter über zwei Millionen Soldaten aus Deutschland und davon   Hohlweg und sind dem Feuer ausgesetzt. Ei, wie das singt und
             wiederum 13.000 Münchnern bei 600.000 Einwohnern, ganz zu   pfeift. Die Herren Engländer schießen wie die Verrückten aus ihren
             schweigen von dem Vielfachen an körperlich und seelisch Ver-  festgeschraubten Zielgewehren. Da fällt einer und dort einer, nur
             wundeten. Der Fasching gehörte damals so fest zum Jahres-  Kopfschüsse. Zwei winzige Löchlein hat der Arme im Schädel und
             kreis, dass sich selbst an der Front ein mehr oder weniger lusti-  ist rettungslos verloren. Die schießen verdammt gut, die verachte-
             ges Faschingstreiben entfaltete, wie hier für das Jahr 1916   ten Engländer. Und wenn ich an ihre 28,5 cm Schiffskanonen den-
             dargestellt werden soll.                         ke, wird mir steinübel. Denn das sind gottverfluchte Leckerbissen.
                                                              Am 7. März musste ich 29 dieser Granätchen willkommen heißen.
                                                              Ich tat’s ungern. Einzigartig schöne Knallerscheinung, würde der
           Der Erste Weltkrieg                                Futurist sagen. Ein solches Luder bugsierten sie in unsern Graben:
                                                              Vier Unterstände, Arme, Beine, Gewehre und Ausrüstungsgegen-
           Zunächst sind zum Verständnis einige Vorbemerkungen zum Cha-  stände gondelten 30 Meter in der Luft. Das ist traurig. Aber der
           rakter dieses Krieges notwendig. Der Erste Weltkrieg war ein Stel-  Humor lässt nicht nach. Auf dem Heimmarsch wurde gesungen,
           lungskrieg. Das bedeutete, dass um relativ geringe Frontabschnitte     gelacht und gescherzt, trotzdem genanntes Ereignis drei Stunden
           erbittert gekämpft wurde, ohne dass die eine oder die andere Seite   zuvor stattfand als Abschiedsgruß. An den Tod gewöhnt man sich.
           größere Geländegewinne erzielen konnte. Die Soldaten lagen sich   Zu Hunderten liegen Engländer zwischen den Gräben und ganz nah
           in ihren jeweiligen Gräben in kurzer Entfernung voneinander ge-  bei uns, sind aufgedunsen und lederbraun und verbreiten liebliche
           genüber und die Zwischenräumen waren mit Stacheldraht gesi-  Düfte.“ Der Münchner Stadtrat benannte am 22. Juni 1933 die
           chert, dem sprichwörtlichen Drahtverhau. Immer wieder wurde das   Wytschätestraße in Moosach mit der Erklärung:
           gegnerisch besetzte Gelände mit Artillerie und Giftgas beschossen,
           so dass eine menschenleere Mondlandschaft zurückblieb, die dann   „Ortschaft bei Ypern, am 1. und 2.11.1914 von der 6. bayerischen
           mit nachgeschobenem menschlichen Kanonenfutter neu besetzt   Reserve-Division, unterstützt durch Teile des II. bayerischen Armee-
           wurde, und das Ganze begann von vorne.             korps, gestürmt. Englische Angriffe verbunden mit ungeheuren
                                                              Sprengungen brachten den Wytschäte-Bogen am 7.6.1917 unter
                                                              schweren Verlusten wieder in Feindeshand.“
           Bericht eines Soldaten von der Front
                                                              Dieser Verkehrsweg nördlich der Wildermuthstraße erhielt nach
           Ein 19-jähriger Schüler des Königlichen Ludwigsgymnasiums, da-  dem Zweiten Weltkrieg (1933–1945) am 14. Januar 1947 den ent-
           mals an der Maxburgstraße gelegen, sandte seiner ehemaligen   militarisierten Namen Esswurmstraße: „Altes Münchner Patrizier-
           Schule einen Feldpostbrief, der im Jahresbericht 1914/1915 er-  geschlecht.“ Später aufgelassen, tauchte die Straße 1978 wieder
           schien. Der Absender schildert darin den Wahnsinn des Kriegsall-  in Sendling auf.
           tages, in seinem Fall beim belgischen Ort Wytschäte: „Und was ist
           Wytschäte? Eine Stadt der Toten. Ich habe schon manchen grausig
           verwüsteten Ort gesehen, aber Wytschäte ist ‚Die Stadt der Toten’   Fasching 1916 an der Front
           im fürchterlichsten Sinne. Nichts als Trümmer, Mauerreste, Spar-
           renwerk und Granatlöcher. Der Friedhof mit seinen vielen Kreuzen   Der Humor an der Front ließ also nicht nach, auch nicht beim Kö-
           ist nicht verschont. Seine Kirche ist nicht mehr, rein gar nichts ist   niglich Bayerischen Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 1, das zu
           da als eine einzige ragende Mauer des Turmes. Die friedlichen   Kriegsbeginn im August 1914 in München aufgestellt und nach
           Schläfer sind aus ihren Gräbern geworfen worden und es ist das   Ende des Krieges im Dezember 1918 aufgelöst wurde. Seit Oktober
           Unterste zuoberst. Unter den Trümmern sind Menschen begraben   1915 erschien der „Drahtverhau“, die „Schützengraben-Zeitung“




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