Page 24 - Taxikurier April 2022
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GASTBEITRAG VON HANS MEISSNER
➔ TAXI-RÜCKBLICK AUF DIE OLYMPISCHEN SPIELE 1972
Vom Millionendorf zur Metropole – Ein Rückblick von Hans Meißner. Der Sprung vom Millionendorf zur
Metropole dauerte 15 Jahre lang, war rasant und wäre ohne die Olympischen Spiele 1972 nicht möglich gewesen.
Besonders hart wirkten sich die Veränderungen auf das Taxigewerbe aus.
Zum Millionendorf wurde München am Innerhalb von sieben Jahren, von 1960 bis gestaltung. In dieser Zeit entstand der
15. Dezember 1957. An diesem Tag wurde 1967, wurden über 2.000 Taxikonzessionen Begriff des Zwickelstichs bei Kurzfahrten.
in Pasing Thomas Seehaus geboren. Mit neu erteilt. Damit hatte der behördliche 1967 lag der Mindestfahrpreis bei 2,00 DM,
seiner Geburt schaffte die Landeshaupt- Übermut kein Ende. Bis 1971 wurden im also einem Zwickel. Der Grundpreis betrug
stadt den Sprung in die Gesellschaft der Hinblick auf die Spiele weitere etwa 600 1,20 DM, sodass bei einem Kilometerpreis
Millionenstädte. Wäre Seehaus 20 Jahre frü- Genehmigungen ausgereicht. 1972 fuhr die von 0,62 DM noch 1,2 km gefahren werden
her zur Welt gekommen, wäre er Bürger der Taxiordnungsnummer 3520 auf der Straße. mussten, bis das Taxameter 2,00 DM über-
Stadt Pasing geworden, denn Pasing wurde Die ohnmächtige Wut der Kollegen führte sprang. Das Hotel Bayerischer Hof wurde
erst 1938 der Hauptstadt der Bewegung zu Protestdemonstrationen, in deren Ver- im Jargon „Zwickelhof“ genannt, da eine
zugeschlagen. Die Bezeichnung Millionen- lauf der Verkehr in der Innenstadt durch Fahrt zum Bahnhof ohne Gepäck 2,00 DM
stadt ist eigentlich nicht stimmig, traf aber Taxis lahmgelegt wurde. In einem Fall wur- kostete.
auf München zu. Behelfsbauten auf Ruinen- den mitten auf der Straße Reifen gewech-
grundstücken in denen Läden und Beizen selt, Taxis abgestellt und Blechschäden si- Kurzfahrten waren in der Innenstadt häu-
untergebracht waren, Vorkriegstrambahnen muliert. Nachdem über 100 Anzeigen der fig. Manche Snobs stiegen am Stachus aus
und geflickte Kopfsteinpflasterstraßen Polizei nicht weiterverfolgt wurden, einigte der Tram, dann in das Taxi ein und bezahl-
waren keine Seltenheit. man sich auf ein Stillhalteabkommen bis zu ten am Bayerischen Hof mit dem handwar-
den Spielen. Zu der massiven Überbeset- men Zwickel vor den Augen der Angebete-
Nach Schule, Lehre und Wehrdienst suchte zung im Taxigewerbe kam ein Preiskampf ten. Mein persönlicher Kurzfahrtenrekord
ich einen Job, der mir ein hohes Maß an mit mehreren hundert Mietwagen der Call- lag bei 33 Fahrten in 12 Stunden ohne
Ungebundenheit bot. In meinem Beruf als Car- und Minicar-Zentrale. einen Umsatz von 100 DM zu erreichen.
Brauer und Mälzer wollte ich, trotz sechs Ein wichtiger Umsatzfaktor waren die etwa
Maß Deputatbier täglich, nicht zurück. Vor 15.000 amerikanischen Soldaten und deren
der Selbständigkeit als Call-Car-Unterneh- Fahrpreise Angehörigen. Die Soldzahlungen waren an
mer (heute Uber) rettete mich ein Ver- den Paydays, Monatsmitte oder Monats-
wandter, der ein Taxi besaß. Mit Mut und Durch die Überbesetzung und den Preis- ende. An diesen Tagen musste man präsent
Tatkraft startete ich an Allerheiligen 1966 kampf mit den Mietwagen war das Taxi- sein. Der US-Dollar war in den 60er Jahren
als Alleinfahrer und wurde schnell von der gewerbe sehr zurückhaltend bei der Tarif- des vorigen Jahrhunderts 4 DM wert, saß
harten Realität eingeholt.
Konzessionsschwemme
Als Thomas Seehaus, der Millionste Münch-
ner, geboren wurde, gab es in München
etwa 700 Taxikonzessionen. Am 8. Juni
1960 hob das Bundesverfassungsgericht die
seit 1934 bestehende Bedürfnisprüfung
auf, da nach Art.12 Abs.1 des Grundgeset-
zes jedem Bürger das Recht auf freie Be-
rufsausübung zusteht. Die Stadtverwaltung
erteilte daraufhin uferlos Taxikonzessionen.
Durch den Zuschlag für die 20. Olympi-
schen Sommerspiele, der am 26. April 1966
erfolgte, machte sich Goldgräberstimmung
in München breit, die die Neuzulassungen
noch beflügelten.
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