Page 33 - Taxikurier April 2024
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Die Wirklichkeit des Krieges 1914

             Der Feldpostbrief eines 19-jährigen,
             frisch von der Schule eingezogenen
               Soldaten im Jahresbericht 1914 ⁄ 1915
             des Königlichen Ludwigsgymnasiums in
             München, damals noch an der Max-
             burgstraße gelegen, wirft ein Schlag-
             licht auf den Wahnsinn an der Front und
             soll deshalb hier fast in Gänze abge-
             druckt werden. Er zeigt, was sich dort –
             im Gegensatz zu den patriotischen
               Jubelfeiern – tatsächlich abspielte:

           „Die Stellungen machen hier ein langes
           Hufeisen und deshalb sehen wir bald links,
           bald rechts am Horizont ein grünliches
           Wetterleuchten, das von den abgeschosse-
           nen Leuchtkugeln der Stellungen kommt.
           Wir hören bereits Gewehrfeuer rattern und
           mit dumpfem Knall unsere mit Katapulten,
           den sogenannten Heuschrecken, geschleu-
           derten Minen explodieren. Besonders steil
           geschossene Kugeln können wir ihr blen-
           dendes Licht ausstreuen sehen und immer
           brodelt das Kleingewehrfeuer der Englän-
           der. Aber während wir unsere Sinne bis
           jetzt in die Ferne gelenkt haben, sehen wir
           auf einmal auf die Straße selber. Hei, da   worden und es ist das Unterste zuoberst.   Engländer zwischen den Gräben und ganz
           geht’s wild zu. Unendlich wälzt die Schlan-  Unter den Trümmern sind Menschen begra-  nah bei uns, sind aufgedunsen und leder-
           ge unseres Regiments sich dahin und im   ben und Vieh und es riecht oft entsetzlich   braun und verbreiten liebliche Düfte.“
           Takt treten ein paar Tausend Stiefel auf das   nach Verwesung. Wir kommen in einen   Tatsächlich entstand 1933 in Moosach eine
           harte Pflaster. Uns entgegen kommen   Hohlweg durch einen kleinen Wald, der nur   inzwischen aufgelassene Wytschätestraße
             abgelöste Truppen, unaufhörlich fahren   mehr aus Telegraphenstangen besteht, so   mit der Erklärung: „Ortschaft bei Ypern, am
           polternd Munitionskolonnen und Material-  haben Kugeln und Granaten ihn zugerich-  1. und 2.11.1914 von der 6. bayerischen
           wagen, Kaleschen, Automobile, zwei-, drei-   tet. Hunderte und Hunderte von Leichen   Reserve-Division, unterstützt durch Teile
           und vierrädrige Fahrzeuge aller Art, bewaff-  liegen seit Monaten in diesem Wald und   des II. bayerischen Armeekorps, gestürmt.
           nete Reiter und Radfahrer. Ein Leben und   viel Kriegsgerät. Wir kommen aus dem   Englische Angriffe verbunden mit ungeheu-
           Treiben, wie es nie da war. Mit rotglühen-  Hohlweg und sind dem Feuer ausgesetzt.   ren Sprengungen brachten den Wytschäte-
           dem Feuer und rauchendem Kamin kommen   Ei, wie das singt und pfeift. Die Herren   Bogen am 7.6.1917 unter schweren Verlus-
           auch die Gulaschkanonen vorbei, herzer-  Engländer schießen wie die Verrückten aus   ten wieder in Feindeshand.“
           freuenden Duft weithin verbreitend. Es   ihren festgeschraubten Zielgewehren. Da
           gäbe ja Bücher zu schreiben und zu füllen   fällt einer und dort einer, nur Kopfschüsse.
           mit den mannigfachen Eindrücken und Bil-  Zwei winzige Löchlein hat der Arme im   Moosach
           dern, die man erlebt. Und wie sich die ein-  Schädel und ist rettungslos verloren. Die
           ander Begegnenden zurufen und die Scher-  schießen verdammt gut, die verachteten   Das Dorf Moosach wurde 1913 nach Mün-
           ze und Witze, ach Gott man könnte es gar   Engländer. Und wenn ich an ihre 28,5 cm   chen eingemeindet und bot auf seinem
           nicht beenden. Aber wenden wir uns nach   Schiffskanonen denke, wird mir steinübel.   stadtfernen Gelände umfangreichen und
           Wytschäte. Wytschäte, der Name hat für   Denn das sind gottverfluchte Leckerbissen.   insbesondere preiswerten Baugrund sowie
           den Krieger einen besonderen Klang. Auch   Am 7. März musste ich 29 dieser Granät-  gleichzeitig einen Bahn- und Trambahn-
           unser Regiment hat schwer gelitten beim   chen willkommen heißen. Ich tat’s ungern.   anschluss in die Stadt. Beginnend mit der
           Sturm im November. Und was ist Wytschä-  Einzigartig schöne Knallerscheinung, würde   Stadtratssitzung vom 3. September 1925
           te? Eine Stadt der Toten. Ich habe schon   der Futurist sagen. Ein solches Luder bug-  erhielt Moosach eine sehr große Zahl neuer
           manchen grausig verwüsteten Ort gesehen,   sierten sie in unseren Graben: 4 Unterstän-  Straßenbenennungen, nämlich insgesamt
           aber Wytschäte ist ‚Die Stadt der Toten’ im   de, Arme, Beine, Gewehre und Ausrüstungs-  sage und schreibe 139 – Ausdruck der
           fürchterlichsten Sinne. Nichts als Trümmer,   gegenstände gondelten 30 m in der Luft.     geplanten Bautätigkeit und damit der Zu-
           Mauerreste, Sparrenwerk und Granatlöcher.   Das ist traurig. Aber der Humor lässt nicht   nahme an Bevölkerung. Allein 33 davon
           Der Friedhof mit seinen vielen Kreuzen ist   nach. Auf dem Heimmarsch wurde gesun-  bezogen sich auf Schlachten des gerade
           nicht verschont. Seine Kirche ist nicht   gen, gelacht und gescherzt, trotzdem ge-  vergangenen und für Deutschland verlore-
           mehr, rein gar nichts ist da als eine einzige   nanntes Ereignis drei Stunden zuvor statt-  nen Ersten Weltkrieges, oft mit Beteiligung
           ragende Mauer des Turmes. Die friedlichen   fand als Abschiedsgruß. An den Tod   bayerischer Truppen. Beispielsweise erin-
           Schläfer sind aus ihren Gräbern geworfen   gewöhnt man sich. Zu Hunderten liegen   nerte August Buckeley, Stadtrat der rechts-




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