Page 18 - Taxikurier Juli 2023
P. 18

südlich um den Nymphenburger Schlosspark   das Geschäftsleben in die Außenbezirke   hergestellt und die Menschlichkeit und die
           und sodann über den Hirschgarten hinweg   verlagert, was ein Absterben des Stadt-  Urbanität, die in Blechschlangen, Motoren-
           parallel zu den Bahnanlagen verlaufen. Von   kernes bedeuten würde.“ Es dauerte nicht   lärm und Abgaswolken zu ersticken droh-
           dieser damals als „großzügig“ und „mo-  lange und jeden Tag durchquerten 75.000   ten, in das Herz der Stadt zurückgeholt.“
           dernst“ empfundenen Lösung ließ der tradi-  Kraftfahrzeuge und 1.400 Straßenbahnen   Bevor das Freibier floss, erklang die Bayern-
           tionelle Geldmangel allerdings im Jahr 1960   die Neuhauser und Kaufingerstraße zwi-  hymne, und Vogel enthüllte im Karlstor eine
           glücklicherweise nur die Hochbrücke Frei-  schen Stachus und Marienplatz. Die Fuß-  Gedenktafel für  den bereits verstorbenen
           mann, den sogenannten Tatzelwurm, ent-  gänger mussten mit den engen Gehwegen   Jernsen.
           stehen – ein lehrreiches Beispiel für die   vorliebnehmen. An den Dezembersamstagen
             Irrwege von selbst ernannten Experten.   des Jahres 1961 etwa ging es laut „Süd-
           Ebenfalls nach dem Krieg entstanden bis   deutscher Zeitung“ folgendermaßen zu: „Ein  Verkehrswende
           1972 der durchgehende Mittlere Ring sowie   riesiger Käufersturm wälzte sich am Sams-
           der Altstadtring, der sich aus sehr verschie-  tag von früh bis spät durch die Innenstadt   Spätestens seit Anfang der 1970er-Jahre
           denen Teilstücken zusammensetzt. Auf der   – zeitweise in einem geradezu beängsti-  wurde in Deutschland die autofreundliche
           Sonnenstraße verläuft er entlang der mit-  genden Ausmaß. Zwischen Stachus und   Verkehrspolitik der Städte zunehmend skep-
           telalterlichen Befestigungsanlagen, auf der     Marienplatz kam man nur im gemäßigten   tischer betrachtet, unter anderem aus der
           anderen Seite der Stadt, im Lehel, schlug   Schritttempo vorwärts und an gewissen   Erkenntnis heraus, dass besser ausgebaute
           man eine breite Schneise durch die beste-  Brennpunkten, wie etwa unter den Karlstor-   Straßen auch mehr Autoverkehr anziehen.
           hende Bebauung. Insbesondere sei dabei an   Arkaden, gab es oft Stockungen. Da und   Kritiker machten die Dominanz des Automo-
           die Kreuzung zur Maximilianstraße erinnert,   dort musste die Polizei mit Seilen die Geh-  bils für Fehlentwicklungen verantwortlich,
           wo die historische, durchgehende Bebauung   wege nach der Straße hin verbreitern, um   etwa Luftverschmutzung, Staus, Lärm, über-
           für den Verkehr zerstört, inzwischen aber   den Verkehr in Fluss zu halten. Freilich   mäßiger Platzverbrauch, Gefährdung von
           im Rahmen der Verkehrswende wieder repa-  konnte von dieser Möglichkeit nur selten   Fußgängern und Radfahrern oder Verödung
           riert wurde. Zwei große Projekte in Mün-  Gebrauch gemacht werden, weil auch der   der Innenstädte. Ihren erster markanten
           chen, wo die Ideen der autogerechtet Stadt   motorisierte Verkehr einen zuweilen be-  Ausdruck fand diese Verkehrswende in der
           umgesetzt wurden, seien noch erwähnt:   ängstigenden Umfang annahm. Wie die   Eröffnung der Münchner Fußgängerzone.
           Einmal die seit Mitte der 1960er-Jahre   Kennzeichen an den Fahrzeugen zeigten,   Seitdem beschloss der Stadtrat, immer
             errichtete Trabantenstadt Neuperlach mit   waren unter den Autofahrern viele aus der     weitere Straßen zu Fußgängerzonen um-
           ihren breiten Straßen, Einkaufszentren und   Umgebung.“ Wir wissen heute, dass die Alt-  zuwandeln, beispielsweise die Theatiner-
           der Trennung von Straßen- und Fußgänger-  stadt nicht wegen des ausbleibenden Indi-  straße, die Sendlinger Straße oder die
           verkehr sowie Büro- und Wohnbereichen.   vidualverkehrs verödet ist, sondern sich im     Dienerstraße, aber auch heute noch befah-
           Und dann das seit 1966 geplante und ge-  Gegenteil zu einem Magneten für Einheimi-  rene Verkehrswege umzuwandeln wie das Tal
           baute Olympiagelände, wo Straßen- und   sche und Auswärtige entwickelt hat.  oder die Maximilianstraße. Auch außerhalb
           Fußgängerbereiche strikt getrennt sind und                          des Zentrums entstanden und entstehen
           das damit bereits in Richtung einer urbanen                         Fußgängerzonen wie in der Weißenburger
           und städtebaulich humanen Zukunft weist.                Fußgängerzone  Straße. Parallel dazu wurde beziehungswei-
                                                                               se soll der Öffentliche Personen-Nahverkehr
                                             Das Konzept der autogerechten Stadt hatte   (ÖPNV) ausgebaut werden, beispielsweise
           Die Altstadt als Verkehrszentrum  sich zumindest im Zentrum, aber auch darü-  Trambahnstrecken durch den Englischen
                                             ber hinaus selbst widerlegt. Nach langen   Garten oder entlang der Fürstenrieder Stra-
           Für heutige Verhältnisse schwer vorstellbar:   Diskussionen und Vorplanungen beschloss   ße. Ebenso die Umstellung auf umweltver-
           Bis zum Baubeginn von S- und U-Bahn im   der Stadtrat daher am 16. Februar 1966,   träglichere Antriebssysteme des Individual-
           Jahr 1966 war der Marienplatz neben dem   durch die Altstadt hindurch eine Fußgän-  verkehrs oder die Ausweisung gesonderter
           Stachus der wichtigste Knotenpunkt für den   gerzone zu errichten. Der Individualverkehr   Fahrradwege unter Streichung von Fahr-
           Trambahn- und Straßenverkehr. Die Altstadt   sollte ebenso verdrängt werden wie der   spuren und Parkplätzen wie in der Fraun-
           war bis dahin nicht nur Geschäftszentrum,   straßengebundene öffentliche Verkehr.    hoferstraße, der Rosenheimer Straße, der
           sondern auch Verkehrsknotenpunkt Mün-  Da die Innenstadt aber gleichzeitig ver-  Theresien- oder Gabelsbergerstraße. Es geht
           chens. Im Gegensatz zu anderen Städten   kehrsgünstig zu erreichen sein musste,   also um eine Umverteilung des öffentlichen
           behielt der Wiederaufbau der Innenstadt   konnte das Konzept der Verkehrsberuhigung   Raumes zuungunsten des Automobils. Laut
           nach dem Krieg dankenswerterweise die al-  nur zusammen mit unterirdischen Trans-  „Duden“ bezeichnet die Verkehrswende die
           ten Straßenzüge bei, so dass die Verkehrs-  portmitteln verwirklicht werden. Unter Lei-  „grundlegende ökologische Umstellung des
           wege dem stark anwachsenden Individual-  tung des Verkehrsexperten Herbert Jensen   öffentlichen Verkehrs“. Als Vorbild dienen
           verkehr bald nicht mehr genügen konnten.   (1900–1968) konkretisierten sich die Pla-  dabei heute Städte wie Kopenhagen, wo
           Im April 1954 blickte der zuständige Refe-  nungen. Am 17. April 1968 wurde der Stra-  45 Prozent der Bevölkerung mit dem Rad
           rent Helmut Fischer hinsichtlich des Prob-  ßenzug gesperrt und gleichzeitig der Bau   pendeln, und das bei deutlich ungemüt-
           lems in die Zukunft: „Wenn die Innenstadt   der S-Bahn begonnen. Rechtzeitig zur   licherem Wetter als in München. Oder
           am Leben erhalten werden soll, muss der   Olympiade eröffnete Oberbürgermeister     Barcelona, wo ganze Häuserblocks für
           Verkehr durch sie hindurchführen, sonst   Hans-Jochen Vogel als seine letzte Amts-  den Individualverkehr gesperrt sind. Oder
           wird sie in zehn bis fünfzehn Jahren nicht   handlung am 31. Juni 1972 offiziell die   London, wo man seit 2003 eine saftige
           mehr existenzfähig sein. Wenn es uns nicht   Fußgängerzone, die erste ihrer Art in     Innenstadt-Maut von 15 Pfund pro Tag zah-
           gelingt, ausreichende Parkmöglichkeiten zu   Deutschland. Vogel lobte: „München hat die   len muss, wenn man das Gebiet mit dem
           schaffen, so laufen wir Gefahr, dass sich   richtige Rangordnung der Nutzungen wieder     eigenen Auto befährt. Oder Paris, wo seit




           18 ⁄ TAXIKURIER ⁄ JULI 2023
   13   14   15   16   17   18   19   20   21   22   23